Frühe Einflüsse – späte Folgen oder Die Magie der Tore
Tore übten schon immer eine magische Anziehung auf Volker Bartsch aus. Als kleiner Junge versteckte er sich unter dem imposanten Bogen des Breiten Tores in der Stadtmauer seiner Geburtsstadt Goslar, später faszinierten ihn die Türstöcke von Erdbunkern im Fichtelgebirge. Und letztlich wurde das Tor zu einem der elementaren Elemente seines künstlerischen Schaffens.
In den Bauten, aber auch der Kunst vieler Völker waren Tore seit jeher symbolisch entscheidende Grenzen – mit denen sich unzählige Assoziationen verbinden. Der Zugang zu Wissen, Menschen, neuen Räumen und Dimensionen kann durch sie gewährt werden, immer teilen sie Räume. Und so, wie offene Tore zum Eintreten einladen, provozieren verschlossene einen Zustand des Ausgesperrtseins, wecken Neugier und Begehrlichkeiten. Gleichsam sind Tore eine Metapher für die Gegenwart, durch welches der Hindurchschreitende von der Vergangenheit Abschied nimmt sowie für die Zukunft, mit der man Hoffnungen, vielleicht aber auch Unsicherheit oder Ängste verbindet. Ebenso mag es ein Symbol für Schutz sein. Denn wo es nichts zu Bewahren gibt, bedarf es keines Tores.
Es gibt viele Arten von Toren. Alle stellen auch eine Begrenzung dar, nämlich die vom Davor und dem Dahinter. Immer ist es ganz entscheidend, auf welcher Seite eines Tores man sich befindet. Bezeichnend ist auch, dass kaum etwas im öffentlichen Raum so sehr bewacht wird wie Tore. Ungebetene Eindringlinge sollen abgewehrt, Personen und Besitz geschützt oder einfach eine räumliche Abgrenzung geschaffen werden.
Durch ihre Bedeutungsvielfalt sprechen Tore den Betrachter unweigerlich an. Mit ihnen verbindet sich geradezu ein Aufforderungscharakter: Nicht nur zu schauen, sondern sich zu bewegen, zu verändern – ja, sich dessen bewusst zu sein, dass viele Wahrheiten nur vorübergehend existieren, dass es immer ein „Danach“ gibt. Als Passage zwischen zwei „Welten“ fördert das Tor zwangsläufig ein duales oder antithetisches Denken.
Volker Bartschs Tore beschreiben fiktive Räume. Sie bestehen alle aus mehreren Elementen. Da gibt es senkrechte Stelen und ein verbindendes Element, ein im Kopfbereich angebundener „Brückenschlag“. Dieser lastet auf den Stelen, stemmt sich gegen sie, umklammert, verbindet und beschützt sie gleichzeitig. Damit stellt er indirekt die Funktion eines Tores dar. Der Künstler beschreibt das so: „Ich versuche, herkömmliches Raumempfinden durch eine Verschiebung der aus den Fugen geratenen Elemente völlig neu zu definieren, die Gesetze der Geometrie bewusst in Frage zu stellen“.
Michael Stoeber: „Coincidentia oppositorum oder Den lieb‘ ich, der Unmögliches begehrt“
in: Bastek, Alexander ed.al. (Hrsg.): Volker Bartsch. Bildhauer, Maler, Grafiker, S. 247-288, hier: S. 262-268:
[...] Tore erscheinen im Werk von Volker Bartsch in dreierlei Gestalt, die symbolischer nicht sein könnte. Einmal als Tor, in dem der Passagencharakter, den man üblicherweise mit ihm verbindet, klar gegeben ist. Ein Tor, das man durchqueren kann.
Dazu gehören das eindrucksvolle „Timon Carré Tor“ (1993) aus Bronze in der Hildesheimer Straße von Hannover ebenso wie das Tor aus Bronze und Granit „Tor am Karlsbad“ (1992) in unmittelbarer Nähe der Berliner Nationalgalerie. Oder auch das Bronzetor (1993/94, 3-teilig) und das bronzene „Winkeltor entriegelt“ (1993), die mit räumlichen Verschiebungen das übliche stereometrische Muster des Tors entgrenzen.
Tore dieses Typus sind nicht nur ganz konkret Passagen, durch die der Betrachter mit den Augen oder dem Körper wandern kann, sie sind auch ein Passagensymbol. Als solches verbinden sie in metaphorischer Weise zwei unterschiedliche Bereiche oder Räume oder auch ein Innen und ein Außen.
Im Symbol der Passage sehen Psychoanalytiker wie Philosophen und Religionswissenschaftler in erster Linie ein Symbol der Initiation und damit der Reife. Erst in Initiationen wächst und reift der Mensch. Solche Passagen und Initiationen sind beispielsweise die Geburt, der Eintritt des Menschen ins Leben, oder die Pubertät, sein Eintritt ins Erwachsenwerden, oder Sterben und Tod, der Eintritt in eine andere Welt.
Den Bezug zum Menschen forciert Bartsch durch die Ausweitung seiner Tortypologie. In einer anderen Serie zeigt er uns Tore, die sich blockhaft verengen. Der Durchgang wird zum schmalen Spalt, den der Betrachter zwar noch mit den Augen, aber nicht mehr mit dem Körper passieren kann. Dazu gehören die aufgerichtete Bronzeplastik „Hidden Treasure“ (1999), genauer ein bronzenes Stelentor, der Piazzetta Senftenberg oder das schon erwähnte „Panke-Tor (Gespaltenes Tor)“ (1991) in Berlin, dessen zwei Steinstelen durch ihre eiserne Behelmung so miteinander verbunden sind, dass die anthropomorphe Anmutung der Plastik unabweisbar wird. Das „Panke-Tor“ wirkt wie ein machtvoller archaischer Krieger. In anderen Werken wird auch noch dieser kleine Spalt negiert und verweigert. Das Tor wird zum Paradoxon, weil seine Teile sich so blockhaft miteinander verklammern, dass kein Durchkommen mehr ist, weder in faktischer noch in symbolischer Weise. Bartschs Torblöcke wie der „Aufbruch“ (1990) am Berliner Lützowplatz aus Granit und Eisen, der „Schöneberger Eisenblock“ (1991), ebenfalls aus Granit und Eisen, oder der „Aichacher Torblock“ (1992) aus farbigem Industrieblechen sind ein Widerspruch in sich. Sie tragen die Signatur des Kafkaesken. Sie erinnern an die Erzählung des Wartenden, der sein Leben lang vor geschlossener Tür Einlass begehrt und erst an seinem Lebensende erfährt, dass er all die Jahre vor der falschen Tür gewartet und vergeblich gehofft hat.
Aber keineswegs alle Tore im Werk von Bartsch tragen diesen Charakter der Hoffnungslosigkeit. Gerade das plastisch Große und das plastisch Kleine in seinem Œuvre stellen eine ganz und gar positive Ausnahme dar. In seinen ganz großen Werken für den öffentlichen und auch privaten Raum erweitert er das Tormotiv hin zum Raummotiv, zum bergenden Gehäuse, das dem Menschen provisorisch Unterkunft auf Zeit gewährt.
In seinem Auftragswerk „Power Gate“ (1998) für die Potsdamer MEVAG wird vor allem in der Aufsicht deutlich, wie sehr die Verknüpfung unterschiedlicher Tore die Plastik wie eine stilisierte Urmutter erscheinen lässt, die alle, die in sie eintreten, wie in einem riesigen Schoß geborgen hält. Ihre vielfältigen Bögen, Schnitte und Winkel, die nie streng orthogonal ausgerichtet sind, tragen zu diesem Gestus wesentlich bei.
Auch das „Golden Gate“ (1994), ein „zerbrochenes“ Bronzetor, dessen Teile, einander suchend, vereinzelt gegeneinander stehen und das Bartsch in San Francisco als Hommage an die verbindende, die Bay überspannende Golden Gate Bridge hat errichten lassen, zeigt mit einem prominent vorkragenden Sturz einen solchen provisorisch Schutz bietenden Charakter.
Und die Freiplastik „Grenzenlos“ (1999), eine monumentale Bronze in Plessow bei Potsdam, verbindet die Motive von Tor, Tür und Fenster in einer so freien und zugleich luftig leichten Weise, dass der Beobachter in der Tat für den glücklichen Moment ihrer Betrachtung den Eindruck haben muss, jede Perspektive sei in diesem plastischen Schutzraum möglich und Grenzen existierten nur in der beschränkten Sichtweise ängstlicher Geister.
Tore, die Anlass zur Hoffnung geben, gibt es aber vor allem auch im kleinen Format der „interaktiven“ Torplastik.
Seien es nun die Bronze „Torblock, variabel“ (1990) in den Maßen 29 x 25 x 15 cm oder das „Variables Tor“ (1992) im Format 34 x 22 x 15 cm, das „Jamaica-Tor“ (1995), eine Bronze in den Maßen 31 x 36 x 24 cm oder die Bronze „Power Gate (Modell)“ (1998) im Format 35 x 24 x 24 cm: stets kann der Betrachter hier mitformulieren an ihrer Ontologie und damit an ihren Möglichkeiten und ihrem Hoffnungspotential.
Auch hier gilt der Satz, dass dem Tüchtigen das Glück hilft. Fortes fortuna adiuvat.